domenica 23 giugno 2013

Überlegungen zu Bolaño

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Überlegungen zu Bolaño

Im August 1999 bin ich nach Buenos Aires geflogen, mit der Absicht, mein Leben zu ändern. Nicht alles, nicht mich als die Person, die ich nun einmal geworden war, aber doch: das Steuer wollte ich anders stellen. Dies zu tun, war eine Lebensnotwendigkeit. Argentinien kannte ich seit 1989, ich war jedes Jahr wenigstens einmal hingefahren, ohne je im engeren Sinn dort gelebt zu haben. Am 24. August jährte sich der Geburtstag von Jorge Luis Borges zum hundertsten Mal; ich erinnere mich an eine Ausstellung handgeschriebener Manuskripte von Erzählungen, deren partiturhaftes Aussehen mich staunen ließ. Am 25. August hatte ich selbst Geburtstag, ab jetzt war ich dreiundvierzig. Ich blieb in Buenos Aires, wohnte dort im unteren Teil von Belgrano, der weniger schick ist als der obere, bis März 2002, flog aber öfters nach Wien, weil ich glaubte, daß meine Existenz als freier – tatsächlich aber zunehmend unfreier – Schriftsteller dies forderte. Von Roberto Bolaño hatte ich zuerst in Buenos Aires gehört, ich weiß nicht mehr, ob durch Freunde oder durch Zeitungslektüre. Rodrigo Fresán, dessen Artikel ich wöchentlich in der Sonntagsbeilage von Página/12 las, wohnte wie Bolaño in Barcelona und war mit ihm eng befreundet. Es könnte sein, daß ich Bolaños Namen das erste Mal in einem von Fresáns Artikeln las. Für den Verlag Antje Kunstmann, in dem die ersten deutschen Bücher Bolaños erschienen, hatte ich eine Überetzung gemacht: Der Wert des Menschen von François Emmanuel, ein außergewöhnliches Buch, davon bin ich nach wie vor überzeugt. Anfang 2001 teilte mir Heike Bräutigam, die „Pressefrau“ des Verlags, telephonisch mit, daß Roberto nach Wien komme. Ob ich ihn treffen, vielleicht ein wenig betreuen wolle? Am 3. April sollte Bolaño eine Rede bei einem kleinen Symposion über „Literatur und Exil“ halten. Diese Rede habe ich übersetzt, der Text ist in der Zeitschrift Literatur und Kritik erchienen. Wie meistens bei solchen Anlässen drehte und wendete Bolaño die Fragestellung, hinter der er eingeschliffene Denkklischees vermutete. Inmitten der Drehungen und Wendungen gab Roberto eine Antwort, die vermutlich nicht im Sinn der an engagierter Literatur und vielleicht noch an Interkulturalität interessierten Organisatoren war, sondern existentielle Dinge betraf und mich an Beckett erinnerte: „Sie gebären rittlings über dem Grab…“

Über die drei Tage Anfang April 2001, an denen ich viel mit Roberto zusammen war, habe ich in einem Artikel für die Literaturzeitung Volltext berichtet. Roberto hat mich vom ersten Augenblick an als Kollegen, als „jungen“ Schriftsteller behandelt, er interessierte sich nicht im geringsten für die Frage, ob ich auch bekannt oder gar berühmt sei – tatsächlich existierte und existiere ich nur am Rand dieses Betriebs. Als Roberto den Wunsch äußerte, Bücher von mir zu sehen, wollte er keinen Beweis, sondern einfach nur das, meine Bücher sehen (lesen konnte er sie nicht). Ich führte ihn in die Zentralbuchhandlung beim Stephansdom, weil ich sicher sein konnte, daß dort wenigstens eins oder zwei meiner Bücher in einem Regal standen. Robertos Verhältnis zu Autoren (besonders zu Dichtern) ist so wie das der Dichter in Die wilden Detektive untereinander. Erfolg ist kein Kriterium, die dichterische Lebensform genauso wichtig wie die Veröffentlichungen, das Schreiben (um jeden Preis) mindestens so wichtig wie das Ergebnis. Wahrscheinlich bin ich Roberto damals auch als bicho raro erschienen, als seltsamer Vogel, denn ich kam gerade aus Buenos Aires, würde demnächst wieder zurückfliegen, war in Wien trotzdem ein Einheimischer. Roberto hatte vor vielen Jahren Mexiko verlassen. Ich glaube, in Spanien und dort in Barcelona zu leben, war eine sehr bewußte Entscheidung von ihm, und wenn man die in Santa Teresa spielenden Teile von 2666 liest, liegt die Vermutung nahe, daß der Autor dieses gegenwartsnahen Zukunftsromans das Alltagsleben in Mexiko für schwer erträglich hielt. Einer der Sätze Robertos, die sich wie ein plastisches Gebilde in mein Gedächtnis eingeprägt haben, war: „Europa ist der beste Ort zum Leben.“ Eine recht triviale Erkenntnis, gewiß. Eine von Robertos besonderen Fähigkeiten bestand darin, allzu Bekanntes in plötzlich verändertem Licht erscheinen zu lassen. Oft habe ich seither gedacht: Ja, trotz allem, Europa – nicht Deutschland oder Spanien oder Katalonien, sondern Europa – ist der beste Ort zum Leben, und so viele andere, Afrika (siehe die Schlußpassagen der Wilden Detektive) oder Mexiko oder Argentinien, aber ein ordentliches, sauberes, ungefährliches Land wie Japan, wo ich seit dem April 2002 wohne, sind schwer zu ertragen. (Unsere Gespräche damals lassen mich vermuten, daß Roberto auch die USA für unerträglich hielt.) Und ich, mitten in Europa geboren, in einem reichen Land mit einer sagenhaften, in den sagenhaften europäischen Osten weisenden literarischen Tradition, hatte mein Land verlassen, um in Buenos Aires Wohnung zu nehmen, in einer Gegend also, der sich Roberto nicht als „Lateinamerikaner“, sondern durch literarische Prägungen ein wenig zugehörig fühlte (Macedonio Fernández, Borges, Gombrowicz, Cortázar sind seine Vorläufer). Ich sprach Spanisch mit dem Akzent von Buenos Aires, kannte die Literatur diesseits und jenseits des Río de la Plata, hatte Ricardo Piglia übersetzt, den argentinischen Intellektuellen, der volkstümliche Krimis zu schreiben verstand, aber auch José Emilio Pacheco, den schlichten, dabei hochbelesenen Dichter aus der Colonia Roma im mexikanischen De-Efe. Auch Michel Houellebecq hatte ich übersetzt, diesen – wenigstens in seinen ersten Gedicht- und Prosawerken – „romantischen Hund“ (um den Titel eines Gedichtbands von Bolaño zu zitieren). Plateforme war damals noch nicht erschienen. Roberto stellte mir neugierige, auch wenig skeptische Fragen und sagte (sinngemäß): „Der Arme muß gewaltig unter sexuellen Komplexen leiden.“ Wieder einmal: keine Trennung von Autor und Werk, keine Trennung von Literatur und Leben. Die schonungslose Darstellung sexueller Frustration, dieses vor dem Erscheinen von Ausweitung der Kampfzone weitgehend unbekannte literarische Terrain, ist so ziemlich das Gegenteil der überschwänglichen, zuweilen auch perversen Sexualität, die man bei Bolaño oft findet. Lebenslust wider die zivilisierten, barbarischen Todesengel – statt Klage und Anklage, j’accuse… Die wilden Detektive sind nicht frustriert, sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, sind nicht bloß Opfer des Spätkapitalismus oder des, wie Houellebecq suggeriert, pseudorevolutionären Hedonismus.




Habe ich in meinem Bericht denn biographische Details über Roberto Bolaño verraten? Ich habe keinerlei Recherchen betrieben und nur Dinge wiedergeben, die mir Roberto mitgeteilt hat, manchmal auch Schlußfolgerungen, Werturteile und Vermutungen meinerseits. Ab und zu lese ich einen Artikel, surfe ein wenig im Internet. So bin ich auf ein Interview mit Robertos Sohn Lautaro gestoßen, der im Jahr 2001 neun Jahre alt war. Mit Roberto hatte ich damals einige E-mails ausgetauscht. In der Adresse, die er mir gegeben hatte, stand vor dem Klammeraffen der Name seines Sohnes. Ich glaube nicht, daß Lautaro diese Adresse damals verwendete, jedenfalls nicht ohne Hilfe seines Vaters. Aus dem letzten, kurzen E-mail Robertos erinnere ich den Satz: „Es ist so heiß, daß die Vögel gebraten vom Himmel fallen.“ Lautaro erzählt in dem Interview einiges über seinen Vater, etwa daß sie zusammen oft stundenlang Computerspiele spielten und dieselbe Musik mochten, zum Beispiel Pink Floyd oder Bob Dylan (Lautaro spielt heute in einer Rockband, die in der Gegend um Barcelona auftritt) und daß Roberto sich sehr um ihn sorgte, als er klein war, und ihn nie allein zur Schule oder von dort nach Hause gehen ließ. Ich bin überzeugt, daß es dieselbe, mich persönlich zutiefst rührende Sorge ist, die er im zweiten Teil von 2666 aus der Perspektive Amalfitanos beschreibt, mit einem atemberaubenden Sinn für die Atmosphäre erzeugenden oder wiedergebenden Details (an der Hausecke wird ein Motor angelassen, aber der Wagen fährt nicht gleich los…). Es wäre eine schöne, aber schwierige Aufgabe, eine Biographie Roberto Bolaños zu schreiben. Man müßte in Chile und Mexiko Gespräche führen und Nachforschungen treiben, und dann Spanien, die vielen für das Werk wichtigen Freunde und Mitstreiter befragen, die schwer zu entwirrenden Zusammenhäge zwischen Fiktion und Literaturgeschichte, wobei es sich um die Infra-Bereiche der Geschichte handelt, also das, was im Schatten der Öffentlichkeit vegetierte in den Jahren als, García Márquez und später Octavio Paz den Nobelpreis bekamen.

Dieser Tage ist in Barcelona ein bisher unbekannter Roman von Bolaño erschienen, der Titel ist „Das Dritte Reich“, El Tercer Reich, das Adjektiv großgeschrieben. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber wie ich ersten Resümees und Rezensionen entnehme, spielt die Geschichte nicht in der Nazi-Zeit, die Hauptfigur ist vielmehr ein deutscher „Nachgeborener“, der, wie der Autor, gern Kriegsspiele spielt und es darin zur Meisterschaft bringt. (Nebenbei: Warum dieses ungewöhnliche Interesse für die deutsche und auch, spezifisch, österreichische Kultur, von der ihn fast alles, nicht zuletzt die Sprache, trennte? Warum Archimboldo, die eine Hauptfigur von 2666, die alle fünf Bücher zusammenhält? Ich habe keine Erklärung dafür.) Das Werk stammt aus dem Jahr 1989, Bolaño hat es kurz vor seinem Tod noch einmal überarbeitet, konnte aber nur noch sechzig Seiten davon auf der Computertastatur abtippen. Klar ist, daß er es veröffentlichen wollte. In den achtziger Jahren hat Bolaño noch weitere Prosawerke geschrieben, die in Spanien mit Verspätung veröffentlicht wurden und zum Teil der Übersetzung ins Deutsche harren. Daß sich in den Schubladen oder Computerarchiven ein größeres unveröffentlichtes Werk aus den letzten Lebensjahren befindet, glaube ich nicht. Bolaño, durch die Krankheit beeinträchtigt, hat seine ganze Energie in die Fertigstellung von 2666 gesteckt. Soviel ich weiß, ist bisher keiner seiner Gedichtbände vollständig ins Deutsche übersetzt (auf englisch ist immerhin The Romantic Dogs erschienen). Ein im Jahr 2000 in dem (relativ) kleinen, aber exquisiten Verlag El Acantilado erschienener Band mit dem Titel Tres enthält drei lange epische Gedichte, das dritte heißt Los Neochilenos, erzählt von der Reise einer Rockband in den chilenischen Norden und wurde, der Datierung zufolge, 1993 in Buenos Aires geschrieben. Die marktorientierten Verlage sind in aller Regel überzeugt, Lyrik – besser gesagt Dichtung, poesía – lasse sich nicht verkaufen. Im Falle Bolaños bin ich überzeugt, daß viele der Leser seiner Romane sich auch für die Gedichte interessieren werden, von denen sich die meisten durch einen erzählerischen Impetus auszeichnen – die Grenze zwischen Poesie und Prosa, zwischen Lyrismus, artistischem Sprachspiel und fiktionalem Erzählen ist bei Bolaño durchlässig, und zwar in alle drei Richtungen. Bolaño gehört zu den Autoren, die sich ihre Leser schaffen. Es kann, wie in seinem Fall, eine ganze Weile dauern, bis die vom Werk geforderte Leserschaft entsteht. Die Berufung auf das „Übliche“ (Marktübliche) ist bei Bolaño unangebracht.

Europa ist der beste Ort zum Leben, und Bolaño schrieb hier einen Großteil seines Werks: er war ein europäischer Dichter. Und ein lateinamerikanischer Autor spanischer Zunge. Diese Zugehörigkeit zu einer großen, vielfältigen Sprachgemeinschaft mit zahllosen Akzenten, von denen Roberto viele aus eigener Lebenserfahrung kannte, diese ihm ganz und gar bewußte Zugehörigkei sollte man nicht unterschätzen – in den Übersetzungen rückt sie zwangsläufig ein wenig in den Hintergrund. Selbstverständlich zählen die frühesten Prägungen, die chilenische Kindheit, der Militärputsch, der Gefängnisaufenhalt (den er mir gegenüber herunterspielte: für die Medien ist sowas immer ein gefundenes Fressen), die Entdeckung der Dichtung in Mexiko, die Umtriebe der Infrarealisten und die Freundschaft mit Mario Santiago Papasquiaro, der Anfang 1998 starb, als Bolaño an seinem ersten großen Mexiko-Roman schrieb, deren Hauptfigur dem Freund nachempfunden ist – im letzten Brief an ihn schrieb Roberto: „Ich schreibe an einem Roman, in dem du Ulises Lima heißt. Der Titel ist Die wilden Detektive.“ Einsinnige Zuordnungen aber können seiner Schreib- und Existenzweise nicht gerecht werden; wenn es eine Bolaño-Identität gibt, dann ist sie aus Prägungen und Willensentscheidungen zusammengesetzt, in ihr kreuzen sich die unterschiedlichsten Energie- und Interessensströme. Eine der Entscheidungen Bolaños (keine Fatalität) war es, daß er sich immer wieder der lateinamerikanischen Literatur zuwandte und die Entwicklungen im Auge behielt, sich über neue Namen freute. Für ein Treffen lateinamerikanischer Autoren im Juni 2003 in Sevilla entwarf er Ende 2002 eine Rede, in der er einige Namen dieser „neuen lateinamerikanischen Literatur“ auflistet. Er beginnt mit dem Mexikaner Daniel Sada, dem „schwierigsten und radikalsten“, setzt dann fort mit César Aira, Juan Villoro, Alan Pauls, Mario Bellatín. Über Aira sagte mir Roberto, er sei von den Lateinamerikanern derjenige, der am besten schreibe – was nicht unbedingt heißen sollte, daß er „der Beste“ sei, denn es geht in der Literatur nicht allein ums Schreiben. Ich glaube, Roberto bezog sich auf die Leichtigkeit von Airas Stil, seine Erfindungsgabe, das luftige Spiel, das ihm selbst vertraut war: man denke an den symbolkräftigen Luftpoeten in Stern in der Ferne. Der große Roman von Alan Pauls, der den argentinischen Erzähler endgültig zu einer festen Größe der lateinamerikanischen Literatur machte, war damals noch nicht erschienen. Inzwischen hat Christian Hansen Die Vergangenheit ins Deutsche übersetzt, offenbar gleichzeitig mit 2666 oder kurz davor oder danach, beide Bücher sind auf deutsch im Herbst 2009 erschienen. Mexikaner und Argentinier stehen ganz oben auf Robertos Liste. Kein Zufall, wird die kontinentale Literatur (und Kultur) doch von diesen beiden Polen geprägt, an denen sich die kleineren Länder vielfach orientieren (wobei Kuba vielleicht einen dritten, ein wenig extraterritorialen Kraft- und Anziehungspunkt bildet). Die politischen, sozialen, kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben dennoch bewirkt, daß die Idee eines großen Lateinamerika, wie sie den Dritte-Welt-Ideologen am Herzen lag und von Leuten wie Che Guevara, Eduardo Galeano oder Pablo Neruda geteilt wurde, an Einfluß verloren hat, um nicht zu sagen: obsolet geworden ist. Einerseits machen sich auch in Lateinamerika Tendenzen zur Vereinheitlichung der Wirtschaftsräume und Auswirkungen der kulturellen Globalisierung bemerkbar, wobei letztere oft von Spanien her gesteuert wird, zum Beispiel durch die großen Verlage, die ihre Filialen in den lateinamerikanischen Ländern haben. Andererseits besteht die Chance, kulturelle Phänomene mehr als bisher in ihrer lokalen Gewordenheit, in ihren ganz konkreten Zusammenhängen und spezifischen (nicht nur sprachlichen) Akzenten wahrzunehmen. Vielleicht ist das nur ein Vorschlag, eine Forderung, um den leeren Platz der alten Lateinamerika-Ideologie auszufüllen: es geht darum, transversale Verbindungen zwischen je einzelnen Stellen zu schaffen, großzügige Netze, Rhizome. Bolaño war darin ein Meister, weil er es verstand, Erfahrung und Einbildungskraft wie im Flug miteinander zu verbinden. Seine Liste von Autoren der neuen lateinamerikansichen Literatur enthält eine starke Abteilung von Chilenen, die recht unterschiedliche Schreibstile pflegen; auch auf den schwulen und, natürlich, barocken Pedro Lemebel hat er nicht vergessen; oder auf Jaime Collyer, einen eher klassischen Erzähler, den ich schon vor zwölf Jahren deutschen Verlagen vorgeschlagen habe, natürlich umsonst. Es gibt keine lateinamerikanische Literatur mehr, es gibt nur noch lateinamerikanische Literaturen. (Hispanoamerikanische Literaturen, müßte es heißen; Brasilien hat eine Sonderstellung.) Was die lokale Tradition betrifft, so hielt sich Bolaño entschieden an Nicanor Parra, den ironisch-verspielten Dichter, von dem so gut wie nichts ins Deutsche übersetzt ist, während er dem schweren und ernsten Pablo Neruda gemischte Gefühle entgegenbrachte. „Zum Glück haben wir Nicanor Parra. Noch hat sein Stamm das Handtuch nicht geworfen.“

Als ich im März 2009 Alan Pauls traf, begründete er die Bedeutung Roberto Bolaños für ihn und andere Autoren der neuen lateinamerikanischen Literatur damit, daß er die schon verloren geglaubte Möglichkeit eines großen lateinamerikanischen Romans nach dem Ende des sogenannten Booms – Cortázar, García Márquez, Vargas Llosa, Carlos Fuentes… – aufgezeigt habe. Im Herbst 2009 flog Pauls nach Princeton, um an der dortigen Universität (am Institut für Lateinamerikastudien, wo Ricardo Piglia seit vielen Jahren tätig ist) ein Seminar über Bolaño zu halten. Möglich, daß der frühe Tod Bolaños und seine letzte Kraftanstrengung dazu beigetragen haben, daß er zu einem leuchtenden Vorbild wurde und zu einem Reservoir; Reservoir von Ideen, Perspektiven, Haltungen, Techniken. Vereinheitlichen läßt sich die neue lateinamerikanische Literatur aber auch mit ihm als Schutzheiligem nicht, sie ist vielfältiger geworden und nicht mehr wie damals, zur Zeit des Booms, auf einen oder zwei – Stadt und Land, autochthone Kultur und europäische Einwanderung – Nenner zu bringen.

Februar 2010

Leopold Federmair, geboren in Oberösterreich, studierte in Salzburg, unterrichtete an Universitäten in Frankreich, Italien und Ungarn, lebte in Wien und in Buenos Aires, seit 2002 in Japan, seit 2006 in Hiroshima. Schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Literaturkritik, Übersetzungen. Buchveröffentlichungen u.a. Die Gefahr des Rettenden (1992), Das Exil der Träume (1999), Kleiner Wiener Walzer (2001) Ein Büro in La Boca (2009). Im Herbst 2010 erscheinen der Roman Analogia entis im Otto Müller Verlag (Titel vom Verlag noch nicht abgesegnet) und der Essayband Buenos Aires, Wort und Fleisch bei Klever. Übersetzungen (Bücher) u.a. von José Emilio Pacheco, Ricardo Piglia, Michel Houellebecq, Michel Deguy, Francis Ponge. Gedichte u.a. von Juan Ramón Jiménez, Jorge Luis Borges, Juan Gelman, José Watanabe, Ugo Foscolo, Ignazio Buttita, Serge Gainsbourg, Jacques Roubaud. Essays u.a. von Antonio Tabucchi und Roberto Bolaño.

WILDE-LESER.DE    
© Leopold Federmair




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